Unbemühte Verfügbarkeit


erschienen in: Neues Deutschland. 06.03.2009

Jetzt wird es einfacher, viel einfacher, denn jetzt gibt es den Stuttgarter Kindertaler, "damit die kleinen Wunder wachsen". Der Förderverein Kinderfreundliches Stuttgart e. V. hat eine Fundraising-Aktion gestartet, die fünf Jahre dauern soll. Wenn mein Lebensgefährte jetzt das Ei befruchtet, hat unser Kind noch mindestens vier Jahre was davon. Jeder Taler, der gespendet wird, wird von Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster und dem Matching-Partner Dr. Stefan von Holtzbrinck verdreifacht. Gefördert werden Projekte, die Kinderbetreuung erleichtern, Freiräume für Kinder schaffen, dazu beitragen, dass sich Kinder gesund ernähren und selbstständig in der Stadt unterwegs sein können.

Stuttgart sei ein "Kompetenzzentrum für die Mobilität von Kindern", behauptet der Oberbürgermeister. Deshalb sollen jetzt für Stuttgarts Schüler, von denen sich immerhin acht Prozent trauen mit dem Rad durch die Autostadt zur Schule zu fahren, im Rahmen der mit dem deutschen Fahrradpreis ausgezeichneten Motivationskampagne "Fahr Rad zur Schule" Gleichgewichts- und Koordinationsübungen angeboten, Helme verliehen und Fahrradwerkstätten eingerichtet werden: Die Kultur der Willkommenheit steht in voller Blüte.

Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk hat vor einem Jahr in der evangelischen Zeitschrift Chrismon gefordert, dass die Gesellschaft werdenden Müttern Mut macht, indem sie ihre Kinder willkommen heißt und nicht alleine lässt. Und es ist erstaunlich, was er damit in Stuttgart bewegt hat. Inzwischen wimmelt es nur so von Stellenanzeigen für Sozialpädagogen, die Kinder aus so genannten bildungsfernen Familien betreuen, Methodenkoffer entwickeln und Module für Eltern ausbrüten sollen. Es gibt Elternseminare für nicht-deutsche Mütter und Väter, Elternseminare für Väter, Elternseminare für werdende Familien und junge Familien, ein Mütterforum Baden-Württemberg, ein Haus der Familie in Stuttgart und Mütterzentren in einzelnen Stadtteilen. Ein Segen für das Kind, das ich eigentlich erwarten sollte. Ganz aktuell hat die Stadt ein Kompetenzzentrum namens Stuttgarter Bildungspartnerschaft gegründet. Es soll die vielen Mütterzentren, Vaterseminare und Familienhäuser miteinander vernetzen und jedem Stuttgarter Kind eine kontinuierliche und gelingende Bildungsbiografie ermöglichen, unabhängig von seiner sozialen und kulturellen Herkunft.

Vor einigen Wochen bin ich mitten in der Nacht aufgewacht. Ich träumte, ich hätte ein Kind. Es weinte fürchterlich, weil ich vergessen hatte, es zu füttern. Eine völlig überholte Angst. Denn für Stuttgarter Kinder gibt es Fohlenpässe. Der Fohlenpass stellt eine normale Entwicklung der Kinder sicher. Er dokumentiert die Stärken und Interessen der Kinder, die Ergebnisse von ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen und die Meinung der Erzieherin in der Kita zum Entwicklungsstand des Kindes. Sprich: da steht alles drin, was das Kind auf die Waage bringt, was es malt, welche Allergien es hat, ob es eine Geschichte erzählen kann, Freunde hat und schon mal mit den Eltern im Zoo war. Und sollte mein vielleicht irgendwann einmal geborenes Kind nicht richtig sprechen, sehen oder hören können, ist das Gesundheitsamt da, wenn ein Buchstabe fehlt, das Schulamt. Und natürlich wird man mir mitteilen, wenn mein Kind zu wenig wiegt, sollte ich vergessen haben es zu füttern.

Wenn es denn nun endlich mal so weit wäre, bin ich nicht einmal arm und alleinerziehend. Ich habe einen Partner, der Kinder will. Falls ich will. Zusammen haben wir 1800 Euro im Monat. Das liegt – inklusive einem Kind – weit über der Armutsgrenze. Und wenn wir das in Mark umrechnen, ist das nicht weniger als meine Mutter früher verdient hat. Und die hatte drei Kinder. Sicher, damals konnte sie jedem Kind 50 Pfennig in die speckige Faust drücken und im Freibad absetzen. Heute kostet einmal Freibad für nur ein Kind zwei Euro. Aber der Oberbürgermeister bringt bestimmt bald einen kompetenten Bäderwirt auf die Idee, nach Bahnen abzurechnen. Wenn dann eine Bahn zehn Cent kostet, könnte ein Kind für fünfzig Cent fünf mal hin- und herschwimmen. Fünf mal 50 Meter, macht 250, das ist ordentlich, würde mein Vater sagen, zumindest bis das Kind acht Jahre ist. Danach sollte mehr drin sein.

Sport, Bildung, fehlt nur noch etwas Liebe. Die wollen Kinder schon vor der Geburt. Und da muss ich noch einmal rechnen. Nicht dass eine Arbeitsstunde bei mir irgendwie teuer wäre. Ein Verlust von drei, vier Euro für ein Stündchen Kind schaukeln lässt sich wohl verkraften. Aber je früher es selbst schwimmt, desto besser. Erst die fünf mal 50 Meter, später dann, von irgendeinem Taschengeld, vielleicht auch 1000. Und selbst wenn es dann für sieben Euro und zehn ins "Leuze" will, wo deutschlandweit zum ersten Mal eine Schwimmhalle in eine ganzheitliche Lernumwelt verwandelt wurde und sich an Fontänen Druck- und Unterdruckmessungen durchführen, an Unterwasserscheinwerfern das Berechnen von Lichtbrechungen üben und aus Lehrfilmen, die an die Projektionswand des Bildungsbades geworfen werden, die neusten wissenschaftlichen Ergebnisse aufsaugen lassen, wird sich eine Lösung finden. Vielleicht lassen sich die Lehrfilme ja auch irgendwie von außen betrachten.

Die Stadt begleitet, betreut, beschult, und doch gibt es in 82 Prozent der Stuttgarter Haushalte keine Kinder. Die einen sagen, es liege am Egoismus, Angela Merkel meint, die gute Ausbildung sei schuld. Bereits vor mehr als zwei Jahren stand in einer ihrer Regierungserklärungen: "Je besser die Ausbildung der jungen Frauen und Männer ist, desto seltener entscheiden sie sich für Kinder. Das kennen wir alle und das wird uns auch immer wieder erzählt. Eine Frau hat ein Studium absolviert, eine hervorragende Ausbildung machen können, möchte im Beruf Karriere machen und steht dann vor der Frage, wie sie diesen Berufswunsch mit ihrem Wunsch, eine Familie zu gründen, vereinbart." Damit die gut ausgebildete Frau zumindest vorübergehend von ihren Karriereplänen ablässt und sich dabei nicht ganz von ihrem Partner im Stich gelassen fühlt, hat Angela Merkel zusammen mit Familienministerin Ursula von der Leyen das Elterngeld erfunden. Und tatsächlich: gleich nach der Erfindung des Elterngeldes wurden in Baden-Württemberg 70.400 Anträge auf Elterngeld bewilligt: 86 Prozent der Antragstellerinnen kassierten weniger als 1000, ein Drittel bekam nur 300 Euro, aber am Geld soll's nicht liegen.

Und was nicht passt, wird passend gemacht: von Kompetenzzentren, Mütterzentren und Verkehrserziehern. Ich müsste als Mutter nur ein bisschen "unbemühte Verfügbarkeit" beitragen, so Sloterdijk in Chrismon. Damit meint er: Einfach das Kind ein bisschen schaukeln, wenn es schreit. Ansonsten "werden tiefe Formen von Melancholie, Resignation und Armutsstimmung die Folge sein." Und das wär' schlecht für kommende Generationen: Denn melancholische, resignierte Menschen in Armutsstimmung kriegen keine Kinder.

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