Das Totenschiff von Venedig


erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung am 30.10.2004
mit dem Titel: Das tote Schiff von Venedig


Lied eines amerikanischen Seemanns

Mädel, heul doch nicht so sehr,
Wart auf mich am Jackson Square
Im sonnigen New Orleans,
Im schönen Louisiana.

Mein Mädel glaubt, ich liegt am Jackson Square
Im sonnigen New Orleans,
Im schönen Louisiana.

Doch liegt nicht an einem Riff,
Ich fahre auf dem Totenschiff
So fern vom sonnigen New Orleans.
So fern vom schönen Louisiana.

(aus: Das Totenschiff, 1926, B. Traven)

Raffinerien fauchen, Kräne strecken ihre Hälse in den süßlichen Dampf, aus dem plötzlich hundertsechzig Meter Stahlrumpf auftauchen. Nördlich der Basilica di San Marco drosseln die Männer an Bord das Tempo der Maschine und werfen mächtige Trossen über die Festmacher. Sie waren in Ägypten, Taiwan, Shanghai, Thailand, Südvietnam, Syrien und Algerien. Nun hat die Kawkab, der Stern, sie zurückgebracht. Sayd Nasr hat dem Schiff den Namen seiner Mutter gegeben.

Als das Schiff nach zweieinhalb Jahren auf See in Venedig festmacht, kommt er an Bord, um den Männern zu sagen, dass er sie nicht bezahlen kann. Vorerst nicht. Eine griechische Bank habe ihm einen Kredit zugesagt. Sayd Nasr will, dass alle an Bord bleiben und das Schiff entladen. Doch die Mannschaft wehrt sich, glaubt ihm kein Wort. Einundzwanzig Männer versperren die Laderäume und weigern sich, das Holz auszuladen, das sie in Shanghai für eine venezianische Möbelfirma geladen haben. Kamal streikt nicht. Er vertraut Sayd Nasr, ist sich sicher, dass er zurückkommen wird und das Geld aus Griechenland mitbringt.

Und tatsächlich, nach vier Monaten ist Sayd Nasr wieder da. Bezahlt die Männer, die laut gegen ihn protestiert haben und schickt sie nach Hause. Von Kamal aber verlangt er, dass er bleibt. Und er hat keine Wahl: "Nach zwei Jahren auf See kann ich nicht ohne einen Cent in der Tasche zu meiner Familie zurückkehren."

Sayed Nasr heuert neue Seemänner an, plant die nächste Überfahrt: Die Kawkab soll nach Taiwan und dort verkauft werden. Als Sayd Nasr Mohmed anbietet, auf der Kawkab zu arbeiten, steigt er sofort ins Flugzeug. Er hat lange nach Arbeit gesucht: "Die meisten Leute verlassen nach ihrem Studium das Land. In Ägypten gibt es kaum Arbeit für Ingenieure." Mohmed soll die Maschinen für die Fahrt nach Taiwan überholen.

Sie schrauben, ölen und klopfen Rost, doch die Behörden lassen sie nicht auslaufen. Das Schiff entspricht nicht den vorgeschriebenen Sicherheitsstandards. Und wieder hat Sayd Nasr kein Geld. Er zahlt Kamal, Mohmed und den anderen zwei Monate Arbeit und verschwindet.

Die Männer gehen zur International Transport Workers’ Federation (ITF). Der Gewerkschaftsführer Antonio Blasi besorgt einen Anwalt. Vier Monate später beginnt der Prozess. Alle sind sich sicher, dass sie ihr Geld bald bekommen werden. "Damals wussten wir noch nicht, dass die italienischen Gerichte langsam wie Schildkröten sind", sagt Mohmed. Monatelang passiert nichts. Die meisten Männer verlassen die Kawkab und heuern auf anderen Schiffen an. Nur Mohmed, Kamal und sechs andere bleiben an Bord, harren aus, auf der langsam vor sich hin rostenden Kawkab.

Das Hafenamt beschwert sich, das Schiff mit den protestierenden Männern soll aus dem Blickfeld der einlaufenden Kreuzfahrtschiffe und Frachter verschwinden. Die Besatzung verholt den Stahlrumpf in den abgelegenen Canale Industriale Brentella, an einen halbverschrotteten Betonkai ohne Wasser- und Stromanschluss. Der Containerterminal liegt seit Jahren brach. Abrissbirnen haben die Lagerhallen zerschlagen, geblieben sind graue Betongerippe und mächtige, vom Einsturz bedrohte Silos.

Der Terminal ist mit roter Absperrfolie vom restlichen Hafengelände getrennt. Mohmed kriecht durch ein Loch in der Folie. Nebel hängt wie aufgeschäumte Milch in der Dunkelheit. Von der gigantischen Fincantieri-Werft am anderen Ende des Kanals flutet grelles Licht gegen den schwarzen Rumpf der Kawkab. Sie haben hellerleuchtete Stockwerke zu einem schwimmenden Hochhaus aufgetürmt. "Drei komplette Kreuzfahrtschiffe hat Fincantieri seit unserer Ankunft gebaut." Mohmed zieht die Hände aus den Taschen, greift in die klammen Seile der acht Meter hohen Landungsbrücke der Kawkab. Die Eisenstufen läuten wie eine versunkene Schiffsglocke zur längst fälligen Wachablösung.

Noi chiediamo al responsabile d'Italia aiuto. Noi muoriamo di fame come le nostre famiglie: Wir bitten die italienischen Behörden um Hilfe. Wir und unsere Familien sterben vor Hunger, steht auf dem Stück Pappkarton, das sie an der Reeling festgezurrt haben.

Als sei noch etwas zu retten, schreitet Mohmed an dem Karton vorbei, über das dunkle, mit rostigen Schuppen übersäte Deck. Direkt auf die fünf weißen Kräne und die grünen Laderäume zu. "Die sind zwölf Meter tief. Wir können das Schiff mit 16.000 Tonnen beladen." Die Seeromantik hat sie aufs Schiff gelockt. Die Kawkab ist ihre Heimat geworden. Eine Heimat, auf die sie noch immer vertrauen, obwohl sie unter ihren Füßen wegrostet. "Wir bräuchten nur ein bisschen Farbe, in drei Monaten wäre der Frachter wieder seetauglich." Zwei Millionen Euro sei die Kawkab bestimmt noch wert, meint Kamal. Sie wurde vor 24 Jahren in Spanien gebaut, "aber wenn sie läuft, sind deine Taschen warm. Wir haben alles, auch Air Condition."

Kamal erinnert sich, schwärmt von Thailand, wo sie den Reis stauten und schließlich an Deck feierten, Whiskey tranken und im Hafenbecken fischten. "Was für ein Leben. Jetzt haben wir nicht einmal mehr genug zu Essen." Auf dem Heck verbrennt Bauholz in einer verrosteten Öltonne. Es soll die feuchte Kälte aus den Knochen vertreiben. Kamal legt den Kopf in den Nacken, hält die Finger seiner rechten Hand hoch und reißt die spröden Lippen auseinander, wie ein Seehund im Zoo. "Ohne Stella Maries’ Friends wären wir nicht mehr am Leben."

Die Leute von Stella Maries’ Friends bringen Essen: tiefgekühlte Hähnchen, Reis, Bananen und Kekse, alles, was sie an Spenden auftreiben können. Der Priester Don Mario hat vor sechs Jahren angefangen als Seelsorger im Hafen zu arbeiten. Kurz bevor die Kawkab anlegte, gründete er die Hilfsorganisation. "Aber Don Mario hat sich auch schon früher um verlassene Seeleute gekümmert. Zwischen 1997 und 2000 lagen fünf Schiffe aus Russland und Rumänien im Hafen fest." Anna ist 27 und arbeitet seit einem halben Jahr bei Stella Maries’ Friends. Sie hat schon für viele Sozialdienste gearbeitet, obwohl sie damit immer wenig verdient hat und nebenbei in Kneipen jobben musste. Sie kann nicht zugucken und hoffen, dass etwas besser wird, sie muss etwas tun.

Sie verlässt das Büro, marschiert in schweren Stiefeln auf den kleinen Bus zu, der vor dem Haus parkt, öffnet die Fahrertür und springt auf den Sitz. Während der Fahrt raucht sie, Selbstgedrehte, und erzählt. Zweihunderttausend Seemänner kommen jedes Jahr nach Venedig. Die meisten sind nur auf der Durchreise, doch auch sie lassen sich wie die Besatzung der Kawkab von Stella Maries’ Friends versorgen. "Der Industriehafen liegt außerhalb von Venedig in Mestre. Da will keiner ohne ein Wort Italienisch festsitzen, nicht einmal für ein paar Wochen." Anna verkauft auf den Frachtern Telefonkarten und fährt die Männer in die Stadt, zum Einkaufszentrum, zum Arzt oder ITF. "Seemänner sind typische Globalisierungsopfer. Wir bringen sie zu Antonio Blasi, denn sie brauchen eine Lobby. Viele Reeder missachten Arbeitsschutzbestimmungen und zahlen unter Tarif." Das Internationale Seerecht kümmere die Reeder wenig, denn eine Mannschaft, die ständig unterwegs sei, könne sich ja nicht organisieren, habe kaum Gelegenheit Rechte einzufordern.

Wenn Anna auf die Kawkab geht, stiefelt sie durch die verlassenen, dunklen Schiffsgänge und ruft die Namen der Seemänner. Nach und nach tauchen sie aus ihren Kojen auf. Sie rauchen in der eiskalten Messe. Heute hat Anna Essen dabei, manchmal kommt sie aber auch nur so und redet mit den Männern gegen die morbide Einsamkeit an. Kamal erzählt, wie sie vor einem Jahr zwei Tonnen Fisch aus dem verdreckten Kanal gefischt haben. "Wir leben sicher nur noch, weil wir die kalziumhaltigen Gräte mitgegessen habe." Anna lacht, aber sobald sie das Schiff verlassen hat, entlädt sich ihre Wut über den Anblick der frierenden Männer auf dem stählernen Ungeheuer: "Das sind gestandene Seeleute, die seit mehr als drei Jahren in der Kälte hocken. Hier werden sie zu Unpersonen, leben wie Flüchtlinge in einem fremden Land, das sie ignoriert. Man sollte sie nach Hause schicken."

Mohmed muss nicht warten bis das Schiff versteigert wird. Auch wenn er zu seiner Familie nach Ägypten zurückkehren würde, hätte er Anspruch auf Lohn. Aber Antonio Blasi hat ihn gebeten zu bleiben: "Ein leeres Schiff ist ein totes Schiff, das stumm zusieht, wie der Eigner sich von seinen Altlasten befreit", sagt der Gewerkschafter, der zu Fuß ins Plaza Café am Bahnhof von Mestre gekommen ist. Die Busfahrer streiken. "Auch sie haben keine Chance. In dieser Welt gewinnt immer der Stärkere. Es ist furchtbar." Antonio Blasi ist 63 und erinnert mit seiner etwas zu kurz geratenen Bundfaltenhose und Baskenmütze an einen alt gewordenen Zeitungsjungen, der er nie war. Früher ist er selbst zur See ge- fahren. Er lässt sich die Sehnsucht nach dem Meer aus den Augen lesen. "Wenn ein Seemann länger nicht auf dem Wasser war, wird das Warten an Land wie das Warten in einem Hochdrucktopf."

Jedes Jahr werden weltweit Tausende von Seeleuten ohne Heuer und Sprit auf verwaisten Schiffen ausgesetzt. Allein fünfzig Schiffe und ihre Besatzung hat Antonio Blasi in den vergangenen Jahren in Venedig, Trieste und Genua gemeinsam mit einem Anwalt vor Gericht vertreten. Er hat den Seemännern befristete Arbeitspapiere, Krankenversicherungen und Essensmarken besorgt, damit sie mittags und abends in der Obdachlosenküche essen können. Ständig ist er auf den Beinen, verhandelt mit den Behörden. "Es ist ein Job ohne Pause, gestreikt wird auch sonntags. Aber es ist eine Genugtuung, wenn man Erfolg hat und nicht zusehen muss, wie der Stärkere gewinnt. Manche Reeder sind so dreist, die tauchen unter falschem Namen bei der Auktion auf und ersteigern ihr Schiff zurück." Sie sprechen sich mit den Gutachtern ab, die den Schiffswert schätzen, bekommen ihre Frachter zu Spottpreisen, die komplette Mannschaft ausgebootet.

Die Reeder haben leichtes Spiel. "Die italienischen Richter können kein Englisch, kennen sich nicht im Internationalen Seerecht aus." Sie ignorieren Fristen, verschieben Gerichtstermine, während das Schiff langsam verrottet. "Die Feuchtigkeit zerfrisst alles, die elektrischen Anlagen auf der Kawkab sind längst oxidiert. Ist ein amerikanisches Gericht zuständig, dauert so ein Prozess höchstens vier Monate." Viel mehr als 700.000 Euro sei die Kawkab wohl jetzt schon nicht mehr wert. "Davon müssen nach der Versteigerung als erstes die Gerichtskosten und die Liegegebühren bezahlt werden. Dann bekommt die Besatzung ihren Anteil. Falls noch genug da ist." Bei zwei panamesischen Schiffen, die Blasi 1997 betreut hat, dauerte der Prozess am Ende so lange, dass für die Seemänner nichts mehr übrig blieb. "Sechs Jahre saßen die Schiffe fest. Zwölf Männer der Besatzung haben Venedig nie wieder verlassen. Sie haben inzwischen italienische Frauen geheiratet."

Eine italienische Frau heiraten, das würde Mohmed auch gerne. In Venedig, wo das Wasser liebevoll um die reich geschmückten Palazzi gurgelt. Die ewige Stadt der Liebe, zumindest für die, die Geld haben. Stella Maries’ Friends hat einen Italienischlehrer für die Besatzung der Kawkab organisiert, eine befristete Arbeitserlaubnis haben die acht Männer mittlerweile auch. Doch bisher haben nur drei von ihnen einen Job: Der Kapitän verteilt Anzeigenblätter, der Steward arbeitet in einer Lampenfabrik und der Maschinist steht am Fließband und packt Glaswolle ab. Mohmed hat keine Arbeit. "Ich spreche überhaupt kein Italienisch. Und wenn ich mich bewerbe, werde ich immer gefragt, wie lange ich bleiben kann. Was soll ich dazu sagen?" Nur einmal, im vergangenen Sommer, hat er sechzehn Tage als Packer gejobbt. Aber Geld bekommen hat er dafür nicht. "Die Leute, die mich eingestellt haben, sagten, sie könnten erst ein halbes Jahr später zahlen. Ich lebe nur von Spenden, von dem, was uns Stella Maries bringt."

Manchmal kommen auch Seeleute von anderen Frachtern an Bord. Sie bringen was zu essen und Kleider, weil ihnen der Lotse erzählt hat, dass die Kawkab seit drei Jahren in Mestre festsitzt. Seemanns Ehre. "Es kann jeden treffen." Für Mohmed ist es das dritte Mal: Siebzehn Monate hat er in Jordanien auf einem saudi-arabischen Schiff festgesessen, zehn Monate auf einem ägyptischen und jetzt auf der Kawkab. Davor hat er vier Jahre in Alexandria studiert, berauscht von der riesigen Hafenstadt und dem Meer, auf das er nie wieder hinausfahren will. "Ich bin vierzig Jahre alt und so arm, dass ich nicht einmal eine Frau heiraten kann." Seine Familie ist bei Freunden und Banken verschuldet. "Ich kann nicht nach dreieinhalb Jahren ohne Geld nach Hause kommen." Sein Vater ist vor einem Jahr gestorben. Zwei Tage vorher hat Mohmed noch mit ihm telefoniert. "Er sagte, er werde nicht mehr lange leben, ich solle endlich nach Hause kommen." Als Mohmed nach einem Monat wieder anruft, weint seine Mutter. Sein Vater ist seit vier Wochen tot. "Mein Herz ist gebrochen. Ich habe ihm nie von der Kawkab erzählt. Der Arzt sagte, er dürfe sich nicht aufregen. Er war halbseitig gelähmt, er ist an einem Hirnschlag gestorben."

Jeden Abend steigt Mohmed mit einer Taschenlampe in den kalt ausatmenden Stahlschlund der Kawkab hinab. Ein dunkler, ölverschmierter Abstieg in den Maschinenraum. "Wir haben zu Weihnachten eine Spende vom Hafenamt bekommen. Fünfundzwanzig Tonnen Diesel." Das reicht für sechs Stunden Strom pro Tag, sieben Monate. Der Generator ruckelt, die Kolben schlagen, das Neonlicht flackert auf. Dicke weiße Rohre, die unter der Decke hängen, Pumpen, Löscher und der gewaltige Schiffsmotor tauchen auf. Am Armaturenbrett blinken rote Kontrolllämpchen. Mohmed drückt auf einen Schalter, die Sirene heult auf, das Schiff erwacht. Currydüfte kriechen in den Maschinenraum hinab. In der Kombüse nutzt einer die wenigen Stunden Strom und verkocht Essensspenden. Überall brennt jetzt Licht. Mohmed steigt die Eisentreppen wieder hoch und verschwindet in seiner Kabine: eine Zelle aus rissigen Sperrholzplatten, die Schrank und Koje sein sollen. Ein lebloses Lager, nicht mal Fotos von seiner Familie hat er dabei. "Ich dachte, ich wäre nur ein paar Monate weg. Wie immer."

Die Einstiegssumme für die Versteigerung wird auf 870.000 Euro festgelegt. Doch während der Verhandlung fordert Sayd Nasrs Anwalt plötzlich die Kawkab zurück. Noch einmal wird die Versteigerung verschoben. Bis in den Sommer. Diesmal haben Antonio Blasi und die Besatzung Erfolg: Ein jordanischer Reeder kauft das Schiff für 1,694 Millionen Euro. "Für soviel, das hätte ich nie gedacht." Antonio Blasi ist zufrieden, aber skeptisch. Zwei Monate nach der Versteigerung hat der neue Besitzer erst 210.000 Euro überwiesen. Er will die Kawkab nach Kroatien bringen, sie vom Rost befreien und wieder in See stechen. Egal was passiert, für Mohmed ist es zu spät. "Ich bleibe in Italien. Nie wieder werde ich zur See fahren, ich bin kein Seemann mehr."

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