Höllenfahrt gen Osten
erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 12. Februar 2004 mit dem Titel:
Kein Vergleich zum Winter achtundachtzig
Die Lust am Elend anderer ist nichts Verwerfliches. Sie steckt in
uns allen. Aber Armut gibt es auch in Gelsenkirchen, keiner
muss und keiner sollte zum Gaffen nach Russland reisen.
Stanislav will trotzdem hin und schlägt seinen verwarzten
Autoatlas auf, in dem der eiserne Vorhang noch mit dicken
roten Balken Ost und West zerteilt. "Hier, ab Moskau mit dem
Zug nach Vladikavkaz, am Fuße des Kaukasus." Da können wir
das Elend zeigen, ohne dem Leser Angst zu machen. Sonnen
wird er sich in seiner Sicherheit, selbst der Gelsenkirchener:
Russland ist weit weg. Die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Nord-Ossetien noch weiter.
Zweitausend Kilometer, besser
sechsunddreißig Stunden mit dem Zug ab Moskau Richtung
Asien. Ein bisschen wie mit der transsibirischen Eisenbahn.
Irgendwann habe ich davon geträumt. Mehrmals. Ab sofort: nie
wieder.
Stanislav ist Profi-Tourist, reisen will er um jeden Preis dieser
Welt. Aber zahlen will er ihn nicht. Das sollen andere tun. Also
bringt er von jeder Reise Fotos mit. Ehrliche Fotos. Und der
Deal scheint fair: Für die weinenden Gesichter, manchmal auch
ausgehungerten Leiber auf seinen Bildern reist er ohne Luxus:
mit langen, ungewaschenen Haaren, geflickten Jeans, einer völlig
unförmigen, mit Schweiß und Fetten patinierten Windjacke.
Restaurant ist nicht, Stanislav ist ein Surviver, hat immer ein
Laib Brot dabei und fettigen Käse. Die inzwischen nicht nur
Wind sondern auch Wasser abweisende Nylonjacke riecht wie
sein Haar nach einem Gemisch aus Landstraße und mit Schuhwichse polierten Zugabteilen. Der labbrige John-Lennon-Draht
sitzt schon lange auf seiner Nase. "Sehr lange", betont Stanislav
und höhlt das Kreuz aus, um seiner gestreckten Hühnerbrust
eine Schwellung zu verpassen. Stanislav ist dürr und zwei Meter
lang, Wasserstand der geflickten Jeans: zehn Zentimeter überm
Schuh. Immer.
Schwarze Nacht am Moskauer Bahnhof. Auf dem Gleis steht ein
dunkelgrüner Zug mit Schornsteinen, aus denen Dampf aufsteigt, wie gemalte Watte. Vor unserem Abteil wartet eine Art
Miss Marple, die ausladenden Brüste in einer blauen Uniform, auf
den Schulterkappen Respekt einflößende Abzeichen. Sie lächelt
und zeigt eine komplette Goldzahnreihe, die an ihrem Oberkiefer
glänzt. Sie reißt unsere Fahrkarten ein, wir steigen in den Zug.
Stanislavs Nylonjacke scheint plötzlich aus jedem Winkel ihre
Düfte zu verströmen. Es sieht aus wie in einem Lazarett: Es
gibt keine Abteile, dreißig Schlafpritschen befinden sich im
Wagon, in jeder Lücke eine! Ich will sofort wieder aussteigen.
Auf einer Pritsche sitzt ein alter Mann mit Tränen in den
Augen. Ihm hat gerade jemand eine schwere Tasche mit Rollen
übers Bein gezerrt, seine Hose aufgerissen, ist einfach weiter,
ohne ein Wort zu sagen. Die Finger des alten Mannes kneten
den Stoff, versuchen das nackte Knie zu verstecken.
Am Zugfenster ziehen zerfallene Häuser vorbei, überdacht mit
Wellblech, ohne Putz. In Gelsenkirchen nennt man solche
Gartenlauben. Die Vorgärten sind mit verschlammten Wasserlachen und vor sich hingammelnden Autowracks übersät. Jede
Menge Bilder, in die das Hirn Elend spinnt: Menschen, die in
ihren Gartenlauben verhungern und verwesen, in Kloaken
ersaufen. Die Mitreisenden aber, mit denen der bereits vollakklimatisierte Stanislav genüsslich Hühnerbeine verzehrt, sagen,
was wir da draußen sehen, habe mit Krise nichts zu tun, sei
völlig normal. Kein Vergleich zum Winter achtundachtzig. Um
nicht zu verhungern musste damals selbst der Moskauer, der
mit befranster Lederweste überm Bierbauch von seinen drei
Motorrädern schwärmt, im Wald Elche schießen gehen.
Es riecht nach hartgekochten Eiern und Krakauer. Frauen lösen
zwischen Eierschalen und Wurstpellen Kreuzworträtsel. Für die
gewaltigen Blumenmuster auf ihren Morgenröcken schämen sie
sich nicht. Den ganzen Tag wandern sie an den Pritschen vorbei,
zum Klo, zum Teekessel und wieder zurück, alles im geblümten
Morgenrock. Vorbei an schnarchenden, kahlgeschorenen Männerköpfen. Ich döse,
bis plötzlich vor meiner Nase ein Fisch baumelt. Nach jedem Bahnhof verwandeln in Schürzen gekleidete
Frauen das Zugabteil in einen wimmelnden Basar. Ich kralle mich
an meinen klebrigen Rubeln fest, von links und rechts stapfen
sie mit geräuchertem Fisch, Butter gefüllten Gläsern und in
Zeitungspapier eingewickelten Nüssen an den Bettenlagern
vorbei. Ein Mitreisender, kahlgeschorener Kopf, wettet, dass er
für hundert Rubel, das sind drei Euro, eine lebende Ziege bekommt.
Schneeweiß ist sie, kötelt und pisst vor Aufregung den
ganzen Wagon voll. Eine Frau, die von ihrer Farm im Kaukasus
erzählt, drückt sie sich zärtlich an den Hals. "Ich habe schon
immer von einer kleinen Ziege geträumt." Die Zugpolizei stampft
durch die Ziegenkötel, verlangt Pässe und holt einen Mann von
seiner Liege. Er muss seine mit Wurstbroten und alten Socken
gefüllte Tasche ausleeren.
Der Schweiß hat Stanislav das T-Shirt am Körper festgeklebt,
seine Haare sind noch fettiger, die Finger jetzt auch, von den
Hühnerbeinen, die er mit den Frauen in den geblümten Morgenröcken
zum Frühstück abgenagt hat. Die Frauen haben keine
fettigen Hände. Die Haare sitzen wie frisch gefönt. Eine Stunde
vor unserer Ankunft in Vladikavkaz tauschen sie ihre Morgenröcke mit frisch
gebügelten Blusen aus, die sie aus ihren Koffern
zaubern, pudern und tuschen ihre Gesichter, malen die Lippen knallrot an.
Vladikavkaz: Die Häuser zerfallen, sie haben hoffnungslose,
leere Gesichter wie ihre Bewohner. Zinn wurde hier mal geschmolzen und Silber raffiniert. Aber seit dem Zerfall der Sowjetunion haben
sich die Fabrikgelände in unheimliche Geisterstädte verwandelt. In Vladikavkaz
wird nur noch Schnaps gebrannt, erzählt Stanislavs Freund Arthur, der uns vom Bahnhof
abholt. Das bringt Geld. Im Supermarkt gibt es alles zu kaufen,
auch Beck’s und Joghurt von Ehrmann. Nur hundert Kilometer
von Grozny entfernt. Arthur ist mit seiner Mutter und seinem
Bruder aus der tschetschenischen Hauptstadt geflüchtet, die
im Dezember 1999 in nur wenigen Tagen von den Russen dem
Erdboden gleich gemacht worden ist: die erste komplett
zerstörte Hauptstadt seit Warschau 1944.
Arthur begleitet uns zur Passstelle. Wer sich als Tourist nicht
meldet, macht sich strafbar. Hinter dem Sperrholztresen zerren
drei Damen in olivgrünen Tarnanzügen Blusen aus Plastiktüten
und freuen sich laut lachend über ihre gerüschten Schnäppchen.
Stanislav legt unsere Pässe auf das Sperrholz. Die Damen
nehmen Haltung an, bewölken ihre Gesichter: "So kann ich Sie
nicht registrieren, wo soll ich denn da hinstempeln?", donnert es
aus dem dicksten der drei Tarnanzüge. Ich habe den Einreisezettel verloren, den mir am Moskauer Flughafen eine der Damen
vom Zoll in den Reisepass gesteckt haben soll, ein kleines
weißes Zettelchen, kaum größer als ein Kassenbon. "Und wo
übernachten Sie? Suchen Sie sich erst mal ein Hotel!" Wir
nehmen ein Zimmer mit taubenblau gestrichenen Wänden. Alles
sauber, alles fein bewacht: Uniformen, die in der Lobby fern
sehen; Uniformen, die vor dem Hotel rauchen oder mit Maschinengewehren den Verkehr regeln. Wieder bei der Passstelle
lehnt sich Stanislav freundlich über den Tresen und versucht
dem Tarnanzug zu erklären, dass so ein Reisepass viele Seiten
habe, die sie abstempeln könne. Der Tarnanzug tobt, grabscht
nach Stanislavs Pass, jagt einen Stempel zwischen die Seiten.
"Mit dem anderen Pass kommen Sie in einer Woche wieder."
Wir laufen durch die Stadt, suchen ein Internetcafé. Stanislav
über alle hinausragend, kaum ein Kaukase scheint größer als
einmetersechzig, und ich mit meinen kurzen Beinen im Laufschritt immer hinter ihm her. Die Leute bleiben stehen, drehen
sich um, lachen uns aus. Eine riesige Stalin-Statue im Stadtpark
scheint uns mit ihren Glubschaugen zu verfolgen. Ihre Augen
bohren sich in unsere Rücken, bis wir die Stadt verlassen
haben. Wir besuchen Arthur in Nazran, die Hauptstadt von
Inguschetien, nicht weit von Vladikavkaz. Tanten, Onkel, Brüder,
alle sind sie da, mästen uns mit Bergen von Rindfleisch, Gemüse, Käse, Kuchen und Geschichten von Bombenangriffen auf
Grozny. Sie erzählen von Mord, Vergewaltigung und Folter, von
ausgerissenen Fingernägeln, von abgerissenen Armen und
Beinen, von neunzigtausend Tschetschenen, die seit vier Jahren
in Flüchtlingslagern leben. Zum Abschied gibt’s drei Gläser mit
eingemachtem Gemüse und Kompott.
Auf der Rückfahrt hocken wir stumm im Bus. Ich lasse mich
fallen, träume von zu Hause, denke an den Basilikum, der auf
meiner Küchenfensterbank vertrocknet. Stanislav packt seine
Kamera aus, macht Aufnahmen durch das Rückfenster. Grau
und verstaubt ist die Straße, ein paar Plastikflaschen und Tüten
tanzen durch den fegenden Wind, ein Mann mit Fellmütze rührt
mit einem dünnen Stock durch die Luft, brüllt irgendwas, vor
ihm stolpern zehn Ziegenböcke über die Straße. Immer wieder
öffnen sich Türen von scheinbar verlassenen Häusern, Frauen in
Stöckelschuhen machen sich auf den Weg, dorthin wo es angeblich etwas zu kaufen gibt,
kehren mit vollen Taschen zu ihren
stummen Häusern zurück, kochen, trinken Tee und leben darin.
Vor einem verlassenen Fabrikgelände hockt ein altes Ehepaar in
einem Auto, auf der Motorhaube liegen in einem Korb ein paar
rote Äpfel, die sie verkaufen wollen.
Plötzlich wird die Bustür aufgeschoben. Passkontrolle. Der
Basilikum welkt weiter in meinem Hirn, während ich völlig
unbeteiligt beobachte, wie Stanislav versucht, den Soldaten
irgendetwas zu erklären. Nach fünf Minuten gibt er auf. "Die
wollen uns mitnehmen." Ich öffne die Tür von einem weißen
Lada, in dem uns ein Soldat aufs Polizeirevier bringen will.
Stanislav redet und redet. Ich verstehe nichts, kann kein
Russisch, gucke nach draußen, sehe die grauen Straßen
vorbeiziehen, alles ganz normal. Warum schwitze ich nicht vor
Angst? Ich sitze da, als ob uns ein netter Russe zu sich nach
Hause eingeladen hat.
Auf dem Polizeirevier erwarten uns drei Männer. Sie lächeln. Alles
wird gut, denke ich. Dann brüllen sie los, unsere Papiere seien
nicht in Ordnung. Stanislav zeigt unsere Visa, alles da. Nein, es
fehlen Papiere. Was wir in Vladikavkaz überhaupt zu suchen
haben, wollen sie wissen. Wir sind Touristen, erzählt Stanislav,
haben ein paar Freunde besucht. Dann fällt ihm der Einreisezettel ein, den die Damen in der Passstelle abgestempelt haben.
Er zeigt ihn vor. Alles in Ordnung. Die Männer klopfen Stanislav
auf die Schulter. Der Soldat, der uns zum Revier gefahren hat,
begleitet uns zu seinem Wagen. Auf dem Beifahrersitz hocken
noch die Einmachgläser mit unserem Gemüse und dem Kompott. "Haben wir von unseren Freunden geschenkt bekommen."
Der Soldat lacht. Er schüttelt Stanislav die Hand, wünscht eine
gute Reise, dreht sich zu mir um, starrt mich an: "Hat die
eigentlich auch so einen Zettel?" Stanislav guckt verständnislos.
"Na, den, den du uns gerade gezeigt hast. Hat die auch einen?"
Stanislav wühlt in seinen Taschen. "Mitkommen", schnaubt der
Soldat. Wir stolpern hinter ihm her und landen vor der Passstelle. Die Tarnanzüge, denke ich noch, da fängt der Soldat
schon wie wild an, gegen das Fenster zu hämmern. Er ruft
irgendetwas, doch keiner meldet sich.
Ich starre in den feisten Nacken des Soldaten, der nicht
aufhören will, gegen die Scheibe zu trommeln. Der Nacken färbt
sich rot. Der Soldat dreht sich um. Überlegt kurz und sagt dann
ganz ruhig: "Okay, das war’s. Ihr könnt’ gehen." Tritt ab von
der Bühne, hat keine Lust mehr, lässt uns mit rasenden Herzen
stehen. Mit weichen Knien bewegen wir uns auf den Stadtpark, Stalin glotzt, allgegenwärtige Macht der Willkür. Erst als ich
zwei Wochen später zu Hause meinen vertrockneten Basilikum
in den Müll schmeiße, fühle ich mich wieder sicher.
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