Oben bleiben


erschienen in: Junge Welt. 16.10.2010

Die ganze Republik fragt sich inzwischen, was die eigentlich wollen, diese Schwaben. Seit Monaten geht das nun schon so. Erst besetzen sie den Nordflügel des Bahnhofs. Studenten, Lehrer, Architekten und ein Stadtrat sind dabei. Dann steigen Robin-Wood-Aktivsten und Parkschützer aufs Bahnhofsdach und blockieren den Abrissbagger, der sich in das denkmalgeschützte Mauerwerk frisst. Landwirte versperren mit ihren Traktoren Baufahrzeugen die Zufahrt. Immer mehr Menschen blockieren immer mehr Straßen und ziehen in den Schlossgarten, um unter den Jahrhunderte alten Bäumen zu übernachten, die für Stuttgart 21 geopfert werden sollen.

Sie kommen immer wieder, obwohl die Polizei mit Pferden in ihre Sitzblockaden reitet, vor dem Bahnhof Schlagstöcke einsetzt und schließlich im Park mit Helm, Stock, Pfefferspray und Wasserwerfer das Fällen der Bäume vorbereitet. Die Polizei schiebt, zerrt und knüppelt Schüler vor sich her, in deren Augen der Pfeffer brennt. Wassermassen fegen Menschen von den Bäumen. Mit der angemeldeten und seit Wochen angekündigten Schülerdemo habe die Polizei nicht gerechnet, heißt es hinterher. Wer das sagt? Genau die, die Kastanien mit Pflastersteinen verwechseln und Monate zuvor vorbereiten und legitimieren, was nicht zu legitimieren ist: Aus Anti-Stuttgart-21-Aufklebern, die irgendwo im Landkreis Calw auftauchen, werden Morddrohungen gegen Grube. Mappus streckt seine Hand aus und erklärt sich zum Dialog bereit, während er Stuttgart-21-Gegner erst als Demo-Chaoten und dann als Berufsdemonstranten beschimpft, bei denen Aggressivität und Gewaltbereitschaft zunehmen.

Mehr als 400 Menschen werden am 30. September im Stuttgarter Schlossgarten verletzt, und doch kommen am Abend danach so viele Menschen wie nie zuvor in den Park. Der Autor Konrad Adam meint, was die Menschen antreibt, sei das Bewusstsein, ein Stück ihrer vertrauten, lieb gewordenen Umwelt zu verlieren. Gegen das Zerstörungswerk, das die Menschen Tag für Tag vor Augen haben, seien Expertisen, Gutachten und Zahlenkolonnen machtlos. Doch wer die Menschen fragt, die sich da im Park versammeln, hört etwas ganz anderes. Sie kommen immer wieder, sagen sie, weil sie eine demokratische Gesellschaft wollen und sich gegen eine Polizei wehren, die parlamentarische Beschlüsse durchprügelt, mit denen Richtlinien und Gesetze missachtet werden. Auch die 25 Bäume, die nach dem Polizeieinsatz im Park abgeholzt wurden, hätten nie gefällt werden dürfen. Mehrere Stunden bevor der erste Baum krachend und splitternd zu Boden fiel, hatte das Eisenbahnbundesamt das Fällen der Bäume verboten, weil es gegen Artenschutzbestimmungen verstößt.

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